Zeitempfinden und Sprache – ein Zusammenhang?

Sprache beeinflusst das Denken. Diese Idee scheint völlig selbstverständlich. Tatsächlich waren hierfür bis vor wenigen Jahren noch überhaupt keine empirischen Beweise zu finden. Seit den 1950er Jahren, als die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese verfasst wurde, entstanden zahlreiche empirische Studien über die Sprachen (bzw. ihre Strukturen und Wortformen) oder psycholinguistische Studien, bei denen man einsprachige Muttersprachler sowie zwei- oder mehrsprachige Muttersprachler in den jeweiligen Sprachen zu bestimmten Dingen befragte und die Ergebnisse verglich. Zum Beispiel weiss ein fünfjähriges Aborigine-Mädchen sofort auf die Frage nach dem Norden richtig zu antworten, während sich angesehene, mehrfach ausgezeichnete Gelehrte aus den Vereinigten Staaten, die den Hörsaal, in dem sie sich befinden, seit 40 Jahren besuchen, weigern zu antworten, weil sie die Antwort nicht wissen, oder eine Weile nachdenken, um dann in alle möglichen Richtungen zu zeigen. Ähnlich wie den amerikanischen Gelehrten ging es auch Gelehrten in Moskau, London und Peking.

Noch ein Beispiel: Würde ich mitteilen wollen, dass ich «Onkel Wanja» von Anton Tschechow auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks gesehen habe, müsste ich auf Mian (wird in Papua-Neuguinea gesprochen) entscheiden, ob ich es gerade eben, gestern oder vor langer Zeit gesehen habe. Auf Indonesisch könnte ich nicht einmal beschreiben, ob es bereits stattgefunden hat oder noch bevorsteht, während ich auf Russisch mein Geschlecht verraten oder in Mandarin herausfinden müsste, ob Onkel Wanja Bruder oder Schwager meiner Mutter oder meines Vaters ist. In Pirahã (wird in Amazonien gesprochen) könnte ich nicht sagen, dass es die 42. Strasse ist, weil Zahlen in Pirahã nicht auszudrücken sind.

Um zum Titel zurückzukehren, sehen wir uns die Amundawa, ein anderes in Amazonien lebendes Volk, an: Sie haben zwar die Möglichkeit, zeitliche Reihenfolgen wie «vorher» und «nachher» auszudrücken, wissen aber nur, dass ihr erster Kontakt mit der Aussenwelt 1986 irgendwann in der Vergangenheit liegt, obwohl viele von ihnen dies selbst erlebt haben sollten. Das liegt daran, dass sie Zeiteinheiten, Zeitpunkte oder allgemein die Zeit selbst nicht ausdrücken können. Ihre Tage teilen sie in Aufstehen, Arbeiten, Essen, Ruhe und Schlafen ein. Des Weiteren unterscheiden sie nur «Kuaripe» (in der Sonne) für die Trockenzeit und «Amana» (Regen) für die Regenzeit und «wenn die Sonne verschwindet» für die Nacht. Dieses Handicap der Zeitlosigkeit liess sich aber schnell beheben, als die Amundawa Portugiesisch, eine Sprache mit Zeitbegriffen, lernten. Offensichtlich dachten die Amundawa nie sehr viel über Zeit nach, um Begriffe für sie zu erfinden.

Eine andere Studie aus Stockholm untersuchte die beiden Sprachen Spanisch und Schwedisch, weil diese sich in ihrer Art, Zeitlängen auszudrücken, unterscheiden: Auf Schwedisch spricht man wie auf Deutsch von einer kurzen Pause oder einer langen Hochzeit, während man auf Spanisch von einer kleinen Pause oder einer grossen Hochzeit spricht. Dies nutzte man für folgenden Test: Bilinguale Schwedisch und Spanisch Sprechende sahen jeweils eine der folgenden zwei Animationen auf einem Bildschirm. Bei der ersten Animation sah man eine länger werdende Linie, bei der zweiten einen wachsenden Container. Beide wuchsen unregelmässig schnell, was der Verwirrung diente. Zu Beginn forderte man die Probanden entweder mit dem spanischen Wort «duración» oder dem schwedischen Word «tid» auf, die Dauer der Animationen zu bestimmen. Das Ergebnis war eindeutig: Hatte man sie auf Spanisch aufgefordert, die Dauer zu nennen, liessen sich die Probanden in die Irre führen, wenn sie den wachsenden Container sahen, aber nicht als sie die sich verlängernde Linie sahen. Wurden dieselben aber auf Schwedisch aufgefordert, liessen sie sich von der Linie beeinflussen und nicht vom Container.

Tomàs Recke

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Sapir-Whorf-Hypothese

http://www.spektrum.de/news/wie-die-sprache-das-denken-formt/1145804

http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/06/Sprache-Worte-Wahrnehmung

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46707709.html

https://en.wikipedia.org/wiki/Pirah%C3%A3_language#Verbs

http://www.sueddeutsche.de/wissen/zeit-und-sprache-leben-im-jetzt-1.1100397

http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-21421-2017-05-03.html

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